Die heiligen Tage nach der Koksdepression

April 19, 2006 on 12:55 pm | In caroline says, fynn |

Eine Amsel lag tot neben der Ampel. Ihr linkes Auge sprach mir gelb ins Blut. Es sagte: „Das sind die heiligen Tage nach der Koksdepression, dich darfst du nicht vergessen.“ Ich ging die paar Schritte durch den Schnee, nur um zu lügen. Ich log, ich wäre absichtlich pünktlich gekommen, ha!

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  1. Eine Amsel lag tot neben der Ampel. Ihr linkes Auge sprach mir gelb ins Blut. Es sagte: „Das sind die heiligen Tage nach der Koksdepression, dich darfst du nicht vergessen.“ Ich ging die paar Schritte durch den Schnee, nur um zu lügen. Ich log, ich wäre absichtlich pünktlich gekommen, ha! Später würde ich zügig am Friedhof vorbei gehen. Später wäre ich zu Hause. Etiam metus mei magnus erat. Ich schälte mich durch die Syntax wie durch eine goldene Schüssel mit Trauben. Ich trank einen Schluck Wasser. Ich bediente den Kopierer. Im Schneeregen strich ich mir das Haar aus der Stirn. Ein Fremder winkte mir aus seinem Mercedes zu. Im Schaufenster des Blumenladens erkannte ich nicht mehr als meine Umrisse.
    Ich saß in meinem Zimmer mit den Ellenbogen auf dem Fensterbrett. Ein Schwan kam durch mein geschlossenes Fenster geflogen. Ich kam in seinem Schnabel und bekam davon die Vogelgrippe. Hätte er sich doch mal besser eine Freundin gesucht. Hätte ich mir doch mal besser eine Freundin gesucht. Die Schuld immer bei sich selber suchen. Ich hatte doch die Gelegenheit. Sie war die Königin des Schwimmbads, für diesen Nachmittag. Aber es ist ja nicht wie bei Schwänen, oder wie ist das bei Schwänen? Aus dem Schatten vor dem Fenster wuchs ein Dämon, wie eine Kartoffel im Komposthaufen, bis er den Schornstein der Nachbarn mit seiner Schwärze verdeckte. Ich schaltete den Fernseher ein und rieb meine Arme. Der Film hieß: „Hässliche Mädchen kommen nicht ins Fernsehen.“ Oder nein, er hieß anders. Aber das war es, was sie einen eigentlich wissen lassen wollten. Auch meine Furcht war groß. Meine blauen Augen sprachen zu mir. „Es ist falsch zu glauben, das wir uns bewegt haben. Während wir seit Tagen im Bett lagen, tanzten die Gegenstände in deinem Zimmer Samba, ohne rot zu werden.“ Ich hatte Schwierigkeiten mit den Zeiten zurecht zu kommen. Es ist sicherlich falsch, nicht mit Zeit zurecht zu kommen.
    I’m thankful for my country home/ It gives me peace of mind Somewhere I can walk alone/And leave myself behind. Ich fühl mich, als hätte Gott mir die Stadt aus dem Fleisch geschnitten. Ich will mit den Knien auf der Erde beten. Ich träume nachts schlecht. Ich habe geträumt, die Blätter vorm Fenster wären alle gelb. Ich konnte nicht sagen, was ich daran falsch fand. Ich war wütend, ohne mich deswegen ausdrücken zu können. Ein Herbst im Frühling, ein Anfang im Ende. Ich kann auch jetzt nichts Falsches daran finden.
    Ich hörte mir die ganzen neuen Sachen an. Ich habe Paul Austers neuen Roman in ein paar Stunden durchgelesen. Die besten Stellen sind doch die, wenn sie Essen gehen. Mich berühren die Textpassagen, in denen sie essen. Das gibt mir mehr als Sex oder eine Enthüllung. Ich wollte noch in die Stadt und einen Anzug kaufen. Wir waren zum Essen verabredet. Ich war mit Paul Auster zum Essen verabredet. Stattdessen landete ich in einem Poolschuppen in Harburg. Sie hatten Plastik- Queues. Der blaue Belag war ziemlich schnell. Ich spielte schlecht und gewann die meisten Spiele. Ich trank Desperados und draußen regnete es. Ich fühlte mich, als hätte Gott mir die Stadt ins Fleisch gepresst. Ich fühlte mich, als würde ich gleich aus den Ohren bluten. Ich bekam nicht mal Nasenbluten. Zuhause setzte ich mich an den Schreibtisch. Es gibt noch eine Sache, die mich an Paul Austers Romanen berührt. Es sind die besten, die ich kenne. Ich fing an zu schreiben. Ich schrieb mir eine Liste. Es ist gut, wenn man sich viele Listen anlegt. Auf die eine Seite schrieb ich, was ich kann. Auf die andere, was ich nicht kann. Ich kann von mir erzählen. Ich kann von niemand anderem erzählen. Ich fürchte es liegt daran, dass mich niemand so richtig interessiert. Das wär aber schon eine Überlegung für die nächste Liste. Ich setzte den blauen Kugelschreiber ab und fing an zu zeichnen. Ich sprach mit der toten Amseln, während Herr Dorl geboren wurde. Ich sagte ihr, es täte mir leid. Ich sagte ihr, ich würde auch eines Tages dort liegen. Am Straßenrand, ohne jemals Auto gefahren zu sein. Ich kann nicht mal fliegen. Ich kann dafür andere Sachen. Tiere sind freundliche Menschen, aber die meisten können ja z.B. nicht sprechen. Oder sie reden einfach alles nach, so wie Kinder. Manchmal habe ich das Gefühl, Tiere sind nicht besonders intelligent. Das ist natürlich Unsinn. Die Amsel war intelligent. Vor ein paar Jahren hatte sie ihren Abschluss in vergleichender Literaturwissenschaft gemacht. Seitdem hatte sie sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser gehalten, während sie an ihrem Roman schrieb. Ich kann mit Tieren sprechen, ich glaub ich bin im Zoo. Ich will Frank Spilkers Lieblingstier wissen. Sonst behaupte ich einfach, das wären Giraffen. Klingt wie ein schlechter Witz wegen der Größe. Ich dachte aber mehr an die Farbe. Ich werde heute Nacht wieder vom Gelb träumen. Gelb der Augen, Gelb der Blätter, Gelb des Fells.
    Ich konnte nicht anders, ich verglich mich mit der Amsel. Ich studierte, ohne großes Interesse daran zu haben. Ich hatte meinen Roman aufgegeben, ohne weit gekommen zu sein. Der bessere Mensch war gestorben. Ich stellte mir vor, wie ich mir mit dem Amselschnabel die Arme aufschnitt und in die Augen stach. Ich war drauf und dran mich zu vergessen. Warum wollte der schwarze Vogel nicht, dass ich mich vergesse? Ich würde mich gern vergessen, ich würde mich gern für ein paar Stunden vergessen. Ich will mich für zwei Wochen vergessen.
    Am Telefon sage ich, dass es mir sehr gut geht. Alles klar, soweit. Ich erzähl dir alles, was du hören willst. Ich mach jetzt endlich meine Sachen, ich klemm mich wirklich dahinter. Wie es dir geht, will ich wissen. Dir geht es nicht so gut? Ich hör mir gern deine Probleme an, vielleicht kann ich dir helfen. Ich kann dir mit Sicherheit helfen, es ist doch alles nicht so schlimm. Ich reiß der Amsel ihre Federn aus und steck sie mir ins Haar. Ich fliege jetzt.
    Das sind die heiligen Tage nach der Koksdepression.

    Kommentar von fynn steiner — 19. April 2006 #

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